Warum eigentlich nicht? Die
sonst so unauffällige Steiermark
stellt bei der Integration
von behinderten Kindern
in Regelschulen den
Europa-Rekord. Dass das jedem
Kind nutzt, ist damit
nicht gesagt.Doch es schadet
nicht – auch nicht den Leistungsstarken.
Ist
3542 durch vier teilbar? Die
Zahl
steht schon eine ganze Weile
an
der Tafel. Immer noch gehen Finger
hoch.
Nicht alle natürlich. Den
blonden
Lorenz zum Beispiel, der
hintenamFenster
sitzt, lässt das Geschehen
da
vorne kalt. Er tastet sich
gerade
in den „Zahlenraum vier“
vor
– und legt kleine Glassteinchen
auf
ein Blatt mit lauter Vierecken.
Über
den Tisch des Zwölfjährigen
ist
eine Leine mit Wäscheklammern
gespannt.
Die Klammern drückt er
ab
und zu, damit seine Finger stärker
werden.
Meistens aber nur,
wenn
die Ulli vorbeikommt und
streng
guckt. Die muntere Sonderschullehrerin
war
gerade in der anderen
Ecke,
bei Gabriel.
Gabriel
liegt dort auf dem Boden
einer
Holzkiste mit Glasdach. Er
kann
auch sitzen. Aber nicht lange:
Bei
seiner spastischen Lähmung
strengt
ihn das an. Bald wirft er
dann
seinen Oberkörper hin und
her
und knurrt. Dann darf er wieder
in
die Kiste. Vor seinem Gesicht hängen
dort
an Fäden verschieden
große
Kugeln.Wenn er mal eine davon
anfasst,
ist ein Lernziel erreicht.
Klassenkameraden
wie Lorenz
oder
Gabriel, mit denen man nicht
reden
kann, sind für die Kinder der
2a
an der Hauptschule von Kalsdorf
bei
Graz nichts Besonderes mehr.
Für
den Rest derWelt schon: Integration
von
Behinderten in normale
Schulen
ist zwar überall in Mode.
Aber
meistens nur im Grundschulalter,
und
eher bei leicht behinderten
Kindern
wie Stefanie mit dem
Down-Syndrom,
die wenigstens in
einer
Sonderschule noch mitkäme.
In
der Steiermark dagegen gehen 82
Prozent
aller Behinderten der Klassen
1
bis 9 in Regelschulen. Damit
hält
das eher unscheinbare österreichische
Bundesland
den Europa-Rekord.
In
Deutschland sind es fünf
Prozent.
Auf mehr als die Steiermark,
nämlich
100 Prozent, bringt
es
weltweit nur einDistrikt im kanadischen
New
Brunswick.
Wie
man auch nur auf ganz
schwer
Behinderte befangen reagieren
kann,
will den Kindern der 2a
nicht
in den Kopf. Klar fasst er den
Gabriel
an, sagt Jürgen und wundert
sich
über die dumme Frage:
„Der
ist ja nicht giftig oder so.“ Oder
auch,
dass man sich für den Umgang
mit
Behinderten irgendwie
schämen
müsste. „Einmal, da hab
ich
den Gabriel im Rollstuhl geschoben“,
erzählt
Robert. „Da sind dann
welche
gekommen und haben gerufen:
So
jung und schon ein Baby?“
Das
fand Robert peinlich. Nicht für
sich,
sondern für die Jungen, die da
riefen:
„Die haben das ja nicht mal
kapiert!“,
empört er sich.
Allerdings
können die vier Behinderten
in
der 2a auch lästig sein.
Etwa
wenn man zum „Bodyguard“
eingeteilt
ist, einem Klassendienst
wie
Milchgeld einsammeln und Papierkorb
leeren.
Dann muss man in
der
Pause auf einen der vier aufpassen
und
dafür sorgen, dass er oder
sie
nachher wieder in der Klasse
sitzt.
Manche machen das ganz
gern.
Andere spielen in der Pause
lieber
Fußball. Stören kann es auch,
wenn
Lorenz im Unterricht singt,
meint
Jürgen. Ein großes Thema ist
das
alles aber nicht. „Das beruhigt
auch
irgendwie, wenn der Lorenz so
singt“,
wirft Robert ein.
Schaut
man sich die Regeln und
Erlässe
an, so kann die Steiermark
wenig
Spektakuläres aufweisen.
Dass
Eltern wählen können, ob sie
ihre
behinderten Kinder lieber in
eine
Sonder- oder in eine Regelschule
geben,
steht inzwischen fast
überall
in Europa im Gesetz. Für ein
Kind
mit „sonderpädagogischem
Förderbedarf“
gibt es Extrastunden,
in
denen eine Sonderpädagogin im
Unterricht
dabei ist. Ganz wie in
Deutschland.
Die Steiermark ist mit
den
Stunden nicht einmal besonders
großzügig.
In der 2a in Kalsdorf
addieren
sie sich für Gabriel, Lorenz,
Stefanie
und ein viertes Kind,
Andrea,
auf 22, in denen Sonderschullehrerin
Ulli
Stelzl im Raum
ist.
30 Stunden stehen auf dem
Plan.
Fehlen also acht. In dieser Zeit
wird
die Klassenlehrerin dann aber
noch
von einer Pflegerin verstärkt.
Sie
setzt Lorenz aufs Klo und wechselt
Gabriel
die Windeln. Die 2a hat
23
Kinder. Bis zu 29 dürfen es sein.
Prinzip:
Ansteckung
Anders
ist nur, dass in der Steiermark
auch
wirklich gemacht wird,
was
anderswo nur im Gesetz steht.
Durchgesetzt
hat das ein Häuflein
von
Engagierten, allen voran die
Sonderschullehrerin
Brigitte Petritsch.
„Der
Groschen gefallen ist
bei
mir in Berlin“, erzählt die inzwischen
pensionierte
Schulrätin. Dort
hat
sie in den 70er-Jahren an der Flämingschule
in
Schöneberg gearbeitet
und
die erste Integrationsklasse
kennen
gelernt. „Da ist mir klar geworden:
Ich
kann noch so eine gute
Lehrerin
sein, die anderen Kinder
kann
ich nie ersetzen.“
In
Österreich gab es solche Ideen
noch
nicht. Dass Integration in der
Steiermark
heute überall Realität
ist,
während Berlin noch immer erprobt
und
diskutiert, ist zu einem
guten
Teil Petritschs Verdienst.
„Das
funktioniert nach dem Ansteckungsprinzip“,
sagt
sie. „Nur wer
es
erfahren hat, lässt sich davon
überzeugen.“
So infizierte Petritsch
Schulpolitiker
und Kollegen. 1993
kam
das Gesetz. Die Quote der Regelschüler
stieg
ständig. Erste Sonderschulen
mussten
geschlossen,
andere
verkleinert werden.
ImEinzelfall
lässt sich manchmal
schwer
sagen, was wem nutzt. So ist
unklar,
worin zum Beispiel der
schwerstbehinderte
Gabriel von seiner
Klasse
profitiert. Für manche
Kinder
sei in einer Sonderschulklasse
manches
auch leichter,
meint
Ulli Stelzl, die Lehrerin der
2a.Weniger
für Gabriel, aber für Stefanie
–
die viel mehr mit den anderen
Kindern
machen möchte, aber
nicht
mehr richtig mit kann. „Die
Schere
wird größer“, sagt Stelzl. Andererseits
kriegt
Stefanie in ihrer
Klasse
vermutlich mehr Anregungen.
Das
nächste Ziel ist schon fixiert:
Auch
die gymnasiale Oberstufe
soll
geistig behinderte Kinder
aufnehmen.
Zwei Modellklassen
gab
es bereits, beide erfolgreich.
Abwägen
lassen sich Vor- und
Nachteile
kaum.Nicht einmal finanziell.
Man
muss sich für ein System
entscheiden,
weil der Betrieb beider
Systeme
zu teuer wird.
Nützt
Integration? Vielleicht
muss
man umgekehrt fragen. Er
fände
es schon „blöd“, wenn Lorenz
auf
einmal weg wäre, meint Matthias.
„Und“,
fragt er, „wieso auch?“