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aus:  Schwäbisches Tagblatt   vom    Montag, 3. Dezember 2007

Artikel von NORBERT MAPPES-NIEDICK in Textform:

Miteinander leben für Fortgeschrittene
INTEGRATION / In der Steiermark gehen fast alle behinderten Kinder in Regelschulen

Bilduntertitel:  Behinderte und Nichtbehinderte lernen – wie hier in Kalsdorf – in den Regelschulen in der Steiermark gemeinsam. FOTO: NORBERT MAPPES-NIEDICK


Warum eigentlich nicht? Die

sonst so unauffällige Steiermark

stellt bei der Integration

von behinderten Kindern

in Regelschulen den

Europa-Rekord. Dass das jedem

Kind nutzt, ist damit

nicht gesagt.Doch es schadet

nicht – auch nicht den Leistungsstarken.

 

Ist 3542 durch vier teilbar? Die

Zahl steht schon eine ganze Weile

an der Tafel. Immer noch gehen Finger

hoch. Nicht alle natürlich. Den

blonden Lorenz zum Beispiel, der

hintenamFenster sitzt, lässt das Geschehen

da vorne kalt. Er tastet sich

gerade in den „Zahlenraum vier“

vor – und legt kleine Glassteinchen

auf ein Blatt mit lauter Vierecken.

Über den Tisch des Zwölfjährigen

ist eine Leine mit Wäscheklammern

gespannt. Die Klammern drückt er

ab und zu, damit seine Finger stärker

werden. Meistens aber nur,

wenn die Ulli vorbeikommt und

streng guckt. Die muntere Sonderschullehrerin

war gerade in der anderen

Ecke, bei Gabriel.

Gabriel liegt dort auf dem Boden

einer Holzkiste mit Glasdach. Er

kann auch sitzen. Aber nicht lange:

Bei seiner spastischen Lähmung

strengt ihn das an. Bald wirft er

dann seinen Oberkörper hin und

her und knurrt. Dann darf er wieder

in die Kiste. Vor seinem Gesicht hängen

dort an Fäden verschieden

große Kugeln.Wenn er mal eine davon

anfasst, ist ein Lernziel erreicht.

Klassenkameraden wie Lorenz

oder Gabriel, mit denen man nicht

reden kann, sind für die Kinder der

2a an der Hauptschule von Kalsdorf

bei Graz nichts Besonderes mehr.

Für den Rest derWelt schon: Integration

von Behinderten in normale

Schulen ist zwar überall in Mode.

Aber meistens nur im Grundschulalter,

und eher bei leicht behinderten

Kindern wie Stefanie mit dem

Down-Syndrom, die wenigstens in

einer Sonderschule noch mitkäme.

In der Steiermark dagegen gehen 82

Prozent aller Behinderten der Klassen

1 bis 9 in Regelschulen. Damit

hält das eher unscheinbare österreichische

Bundesland den Europa-Rekord.

In Deutschland sind es fünf

Prozent. Auf mehr als die Steiermark,

nämlich 100 Prozent, bringt

es weltweit nur einDistrikt im kanadischen

New Brunswick.

Wie man auch nur auf ganz

schwer Behinderte befangen reagieren

kann, will den Kindern der 2a

nicht in den Kopf. Klar fasst er den

Gabriel an, sagt Jürgen und wundert

sich über die dumme Frage:

„Der ist ja nicht giftig oder so.“ Oder

auch, dass man sich für den Umgang

mit Behinderten irgendwie

schämen müsste. „Einmal, da hab

ich den Gabriel im Rollstuhl geschoben“,

erzählt Robert. „Da sind dann

welche gekommen und haben gerufen:

So jung und schon ein Baby?“

Das fand Robert peinlich. Nicht für

sich, sondern für die Jungen, die da

riefen: „Die haben das ja nicht mal

kapiert!“, empört er sich.

Allerdings können die vier Behinderten

in der 2a auch lästig sein.

Etwa wenn man zum „Bodyguard“

eingeteilt ist, einem Klassendienst

wie Milchgeld einsammeln und Papierkorb

leeren. Dann muss man in

der Pause auf einen der vier aufpassen

und dafür sorgen, dass er oder

sie nachher wieder in der Klasse

sitzt. Manche machen das ganz

gern. Andere spielen in der Pause

lieber Fußball. Stören kann es auch,

wenn Lorenz im Unterricht singt,

meint Jürgen. Ein großes Thema ist

das alles aber nicht. „Das beruhigt

auch irgendwie, wenn der Lorenz so

singt“, wirft Robert ein.

Schaut man sich die Regeln und

Erlässe an, so kann die Steiermark

wenig Spektakuläres aufweisen.

Dass Eltern wählen können, ob sie

ihre behinderten Kinder lieber in

eine Sonder- oder in eine Regelschule

geben, steht inzwischen fast

überall in Europa im Gesetz. Für ein

Kind mit „sonderpädagogischem

Förderbedarf“ gibt es Extrastunden,

in denen eine Sonderpädagogin im

Unterricht dabei ist. Ganz wie in

Deutschland. Die Steiermark ist mit

den Stunden nicht einmal besonders

großzügig. In der 2a in Kalsdorf

addieren sie sich für Gabriel, Lorenz,

Stefanie und ein viertes Kind,

Andrea, auf 22, in denen Sonderschullehrerin

Ulli Stelzl im Raum

ist. 30 Stunden stehen auf dem

Plan. Fehlen also acht. In dieser Zeit

wird die Klassenlehrerin dann aber

noch von einer Pflegerin verstärkt.

Sie setzt Lorenz aufs Klo und wechselt

Gabriel die Windeln. Die 2a hat

23 Kinder. Bis zu 29 dürfen es sein.

Prinzip: Ansteckung

Anders ist nur, dass in der Steiermark

auch wirklich gemacht wird,

was anderswo nur im Gesetz steht.

Durchgesetzt hat das ein Häuflein

von Engagierten, allen voran die

Sonderschullehrerin Brigitte Petritsch.

„Der Groschen gefallen ist

bei mir in Berlin“, erzählt die inzwischen

pensionierte Schulrätin. Dort

hat sie in den 70er-Jahren an der Flämingschule

in Schöneberg gearbeitet

und die erste Integrationsklasse

kennen gelernt. „Da ist mir klar geworden:

Ich kann noch so eine gute

Lehrerin sein, die anderen Kinder

kann ich nie ersetzen.“

In Österreich gab es solche Ideen

noch nicht. Dass Integration in der

Steiermark heute überall Realität

ist, während Berlin noch immer erprobt

und diskutiert, ist zu einem

guten Teil Petritschs Verdienst.

„Das funktioniert nach dem Ansteckungsprinzip“,

sagt sie. „Nur wer

es erfahren hat, lässt sich davon

überzeugen.“ So infizierte Petritsch

Schulpolitiker und Kollegen. 1993

kam das Gesetz. Die Quote der Regelschüler

stieg ständig. Erste Sonderschulen

mussten geschlossen,

andere verkleinert werden.

ImEinzelfall lässt sich manchmal

schwer sagen, was wem nutzt. So ist

unklar, worin zum Beispiel der

schwerstbehinderte Gabriel von seiner

Klasse profitiert. Für manche

Kinder sei in einer Sonderschulklasse

manches auch leichter,

meint Ulli Stelzl, die Lehrerin der

2a.Weniger für Gabriel, aber für Stefanie

– die viel mehr mit den anderen

Kindern machen möchte, aber

nicht mehr richtig mit kann. „Die

Schere wird größer“, sagt Stelzl. Andererseits

kriegt Stefanie in ihrer

Klasse vermutlich mehr Anregungen.

Das nächste Ziel ist schon fixiert:

Auch die gymnasiale Oberstufe

soll geistig behinderte Kinder

aufnehmen. Zwei Modellklassen

gab es bereits, beide erfolgreich.

Abwägen lassen sich Vor- und

Nachteile kaum.Nicht einmal finanziell.

Man muss sich für ein System

entscheiden, weil der Betrieb beider

Systeme zu teuer wird.

Nützt Integration? Vielleicht

muss man umgekehrt fragen. Er

fände es schon „blöd“, wenn Lorenz

auf einmal weg wäre, meint Matthias.

„Und“, fragt er, „wieso auch?“